Viele Deutsche sind im Meditations-Wahn. Achtsamkeit gegen alles... echt jetzt?
Meditation gehört heute zum Standard-Programm eines jeden, der etwas auf sich hält. Achtsamkeit ist hip. Und mittlerweile wird es sogar als Allheilmittel angesehen, das bei allem helfen soll, seien es nervige Kollegen, Depression, Stress, Nachsorge bei einer Krebs-OP, immer mehr Leute wollen ihre Probleme durch Achtsamkeit lösen.
Aber ist das so? Hilft Achtsamkeit wirklich gegen alles? Oder ist es schlichtweg ein akzeptabler Grund, eine dringend notwendige Pause einzulegen in einer immer hektischer werdenden Welt? Und ist es die Pause, die wir uns andernfalls vielleicht gar nicht gönnen würden? Ist es das, was das Wohlbefinden auslöst?
Naja, MBSR ist mittlerweile mainstream. Und es scheint ja auch zu funktionieren.
Stressreduktion durch Achtsamkeit, kurz MBSR (aus dem Englischen: mindfulness-based stress reduction), wurde von dem Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn Ende der Siebzigerjahre ins Leben gerufen, und die Wurzeln liegen in Elementen der buddhistischen Meditation, Yoga und Zen. MBSR wirkt durch gezielte Lenkung von Aufmerksamkeit. Die Methode enthält eine spezielle Sitzposition, Körperübungen und Yogaelemente. Religiöse Elemente wurden von Jon Kabat-Zinn entfernt.
Man ziehe sich also an einen ruhigen Ort zurück, setze sich aufrecht hin und beobachte sich selbst mit voller Akzeptanz und ohne zu bewerten. Man spüre seinen Körper, achte auf den ein- und ausströmenden Atem, um dann entspannt wieder in den Alltag zurück zu kehren.
Laut Verband der Achtsamkeitslehrenden gibt es in Deutschland acht Ausbildungsinstitute und mehr als 1000 Lehrer. Tendenz steigend. Und die Lehrer werden auch gebraucht, da immer mehr und immer größere Firmen Achtsamkeit für ihre Belegschaft anbieten wollen und immer mehr Krankenkassen einen Teil der Kursgebühr zu übernehmen bereit sind.
Es gibt mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche Studien, die auf den ersten Blick zu bestätigen scheinen, dass Achtsamkeit tatsächlich eine Art Allheilmittel ist. Laut dieser Forschungsergebnisse ist es mittlerweile offiziell: Wer regelmäßig meditiert, ist nicht nur gelassener und entspannter, er verbessert auch seine Konzentrationsfähigkeit und erhöht sein Selbstbewusstsein. Die Studien zeigen: Stress, Ängstlichkeits- und Depressionssymptome lassen sich durch Achtsamkeit lindern und Blutdruck, Blutzuckerspiegel, das Körpergewicht und das Level von Stresshormonen im Blut lassen sich leichter regulieren (Psychoneuroendocrinology: Pascoe et al., 2017; International Journal of Yoga: Parswani et al., 2013).
Diese Studien bestätigen: Meditation habe auch auf das Gehirn positive Auswirkungen. Hirnareale, die für die Regulation von Emotionen, das Gedächtnis und die Körperwahrnehmung zuständig sind, scheinen größer zu werden bei denjenigen, die regelmäßig meditieren (Nature Neuroscience Reviews: Tang et al., 2015).
Der Meditationsforscher und Neurowissenschaftler Dr. Ulrich Ott erklärt:
"Durch die Wendung nach innen wird [auch] der eigene Körper viel bewusster. Die 'Landkarten', die im Gehirn die Körperoberfläche und die inneren Organe repräsentieren, sind am Anfang noch sehr grob. Mit zunehmender Übung differenzieren sie sich immer feiner aus. Dementsprechend werden auch die Hirnareale aktiviert, die mit Körperempfindungen und Bewegungen zu tun haben, also der somatosensorische Cortex und der sogenannte insulare Cortex. Nach einiger Praxis werden diese Areale größer, und auch die Dichte der synaptischen Verbindungen nimmt zu.(...) Der insulare Cortex, der gestärkt wird, wenn man sich selber besser spürt, ist auch ein Bereich, der beim Mitfühlen aktiv ist. Meditation ist nicht egoistisch, wie man vielleicht denken könnte. Vielmehr erweitern Sie dadurch Ihre Fähigkeit, anderen offen zu begegnen."
Mehr noch: Therapieformen, welche die Methoden der Achtsamkeit mit einbeziehen, könnten bestimmten Depressionskranken besser helfen als herkömmliche Verfahren. Der Psychologe Boris Kotchoubey vom Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen hat im Jahr 2016 zwei Studien mit je 100 und 70 Probanden begonnen, die an einer wiederkehrenden Depression litten.
Kognitive Verhaltenstherapie versucht in solchen Fällen, negative Gedankenspiralen zu stoppen oder das Grübeln zu unterdrücken. Mit Achtsamkeit jedoch lernen die Betroffenen vor allem, Gedanken nicht zu bewerten. Der kleine aber feine Unterschied hier ist, dass die negativen Gedanken nicht unterdrückt werden, sondern noch 'da sind'. Aber "sie verlieren ihre negative, ihre reizende und ätzende Färbung", sagt Kotchoubey. Das helfe auch, Konflikte anders zu verarbeiten. (vgl. Psychology Research and Behavior Management: MacKenzie & Kocovski, 2016)
Achtsamkeit hilft also bei so einigen Wehwehchen, soviel scheint klar zu sein. Aber, ist es wirklich für alles gut? Für die rückfällig Depressiven zum Beispiel ist es für anhaltendende Besserung womöglich besser, eine andere Methode einzusetzen. Eine, die stärker auf Zwischenmenschlichkeit setzt und weniger auf Meditation (Journal of Consulting and Clinical Psychology: Michalak et al., 2015).
Auch von Psychiatern und Statistikern der McGill University aus Montréal kommt Kritik an vielen Studien. Sie behaupten, dass es möglicherweise Verzerrungen gebe bei den Forschungsergebnissen (PLoS One: Coronado-Montoya et al., 2016). Möglicherweise sind Achtsamkeitsübungen also weniger wirksam als die Studien nahelegen.
Auch gegen chronische Schmerzen zum Beispiel scheint Meditation kaum zu helfen (Annals of Behavioral Medicine: Hilton et al., 2017). Darauf weißt eine Metastudie, in die Daten aus vielen Einzelstudien einflossen, hin. Grundsätzlich, sagt Nicole Skoetz vom Centrum für Integrierte Onkologie Köln/Bonn, seien die wissenschaftlichen Daten zu Achtsamkeit nicht besonders gut: Die Studien hätten beispielsweise oft zu wenige Teilnehmer.
Der Psychologe Ulrich Ott vom Bender Institute of Neuroimaging der Universität Gießen weist darauf hin, dass Achtsamkeit für bestimmte Menschen sogar kontraproduktiv sein kann. Vor allem "Menschen mit emotionaler Instabilität, Vulnerabilität für Psychosen, posttraumatischer Belastungsstörung und Erfahrungen von Depersonalisation oder Derealisation" sagt Ott in einem Interview mit der Techniker Krankenkasse.
Ott erläutert weiterhin:
"In der Meditation tauchen auch Emotionen auf. Meditation ist deshalb relativ kontraindiziert bei Belastungsreaktionen nach einem schweren Trauma, zum Beispiel, wenn man Opfer einer Gewalttat oder einer Naturkatastrophe war oder einen schweren Unfall hatte. Dann kann das Trauma in der Meditation wieder auftauchen. Da muss Vorsorge getroffen werden. Einen MBSR-Kurs 'Stressbewältigung durch Achtsamkeit' sollten diese Menschen zum Beispiel nicht machen. Der ist geeignet für Menschen, die Stress bewältigen wollen, auch bei chronischem Stress, aber nichts für massive psychische Störungen."
Dazu gehören auch Menschen, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Diese werden möglicherweise in der Meditation durch eine Konfrontation mit der traumatisierenden Situation (Flashback) erneut traumatisiert (PubMed: Lustyk MK et al. 2009). Dieser Studie zufolge kann es bei Menschen mit akuten Psychosen zu Dissoziationen und Halluzinationen kommen sowie zu religiösen Wahnideen oder Manien. Die gleiche Studie zeigt, dass Meditation die Entwicklung von Epilepsie begünstigen oder zu stärkeren und häufigeren epileptischer Anfällen führen kann. Während der Meditationssitzungen oder danach können sich Gefühle von Angst, Panik, innerer Spannung, Langeweile oder Selbstverurteilung zeigen (PubMed: Lustyk MK et al. 2009). Wichtig ist hier, dass der Betroffene die Kapazität hat, diese Gefühle auszuhalten und damit präsent zu sein. Hat er diese Kapazität nicht, besteht die Gefahr, dass er re-traumatisiert wird.
Die Message ist klar: Achtsamkeit ist eben doch kein Allheilmittel! Und es ist auch nicht hilfreich für jeden.
Aber Achtsamkeit ist und bleibt hoch im Trend. Warum eigentlich? Die Ärztin Nicole Skoetz hat die Tendenz beobachtet, dass mehr und mehr Menschen nach einer spirituellen Verbundenheit suchen, die sie aber in der Kirche nicht finden. Menschen, die wieder mit sich selbst in Verbindung und "zur Besinnung kommen" wollen. Meditation ist da eine Antwort für Viele. Selbstakzeptanz ist eine Qualität, die der Achtsamkeitsschüler mit regelmäßiger Übung lernt. "Sich selbst und seine Umgebung zu akzeptieren" ist enorm viel Wert und hat womöglich auch eine bedeutende positive Auswirkung auf unsere Gesundheit, psychisch und physisch.
Aber bei allem Tamtam, der um Achtsamkeit gemacht wird: Es wird mehr und mehr deutlich, dass es einfach total wichtig ist, für jeden einzelnen durch genaues Hingucken herauszufinden, welche Methode geeignet ist und welche nicht.
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